Stark gekürzter Reisebericht vom 24. Juli 03 - 23. August 03

Januar 2003

Nach langem Suchen hat unser Bekannter Ram aus Kathmandu eine Trekkingagentur ausfindig gemacht, die bereit ist, uns für 425 US-Dollar auch ohne die eigentlich erforderliche Reisegruppe nach Lhasa zu bringen. Begeistert sagen wir zu.

 

Juli 2003

Mittlerweile ist ein halbes Jahr mit ausführlicher Planung und Reisevorbereitung vergangen und wir sind bereit, unser Abenteuer zu starten.

Mit einem Mountainbike – das zweite muss leider in Frankfurt am Flughafen zurückbleiben – und voller Campingausrüstung inklusive Lebensmittel fliegen wir nach Kathmandu. Dort kaufen wir ein zweites Rad und fliegen nach drei Tagen weiter nach Lhasa.

Die Stadt liegt auf 3.600m Höhe und hat kulturell einiges zu bieten. Es fällt uns nicht schwer, die Akklimatisationstage dort zu verbringen, bevor wir mit unserem Abenteuer beginnen. In der Altstadt von Lhasa existiert noch das alte Tibet, den Rest haben die Chinesen zerstört. Wir sind traurig, als wir die Stadt verlassen.

 

1. Tag, 83,5 Km:

Die heutige Etappe ist ein Genuss. Mit voll geladenen Rädern rollen wir über eine flache und gut asphaltierte Straße durch das Tal des Kyi Chu (chu=Fluss). Es existiert sogar ein Radweg, so dass der viele Verkehr, der hier noch unterwegs ist, uns nicht sonderlich stört. Höhepunkt des Tages ist die Überquerung des Tsang Po über eine Brücke, die vom Militär kontrolliert wird. Wir sind ohne Genehmigung unterwegs und ziemlich nervös, als wir an den Soldaten vorbei fahren. Die Chinesen schauen und irritiert an, halten uns aber nicht an, denn es gibt keine Regel über europäische Radfahrer, nur die Autofahrer müssen sich ausweisen.

Der Tag endet für uns in der Nähe des Dorfes Gampa, denn hier finden wir eine ebene Fläche, auf der wir unser Zelt aufstellen können. Als wir unser Abendessen kochen, sehen uns drei neugierige Schäferkinder dabei zu.

 

2. Tag, 31 Km:

Der heutige Tag wird der schlimmste der ganzen Tour werden – obwohl wir das beim Aufstehen glücklicherweise noch nicht ahnen! Wir haben den Khampa La (La=Pass) zu überwinden, vom Standort unseres Zeltes müssen wir 1.200 Höhenmeter hinter uns bringen. Die Schotterstraße windet sich in gnadenlosen Serpentinen über 20 Kilometer steil den Berg hoch. Mit unseren vollgepackten Rädern müssen wir bald schon schieben, doch selbst das ist mit ungeheueren Anstrengungen verbunden – wir haben uns noch nicht ganz an die Höhe gewöhnt. Die Belastungsintervalle werden immer kürzer, die Pausen immer länger. Es ist schon später Nachmittag, als wir endlich die Passhöhe erreichen. Völlig erschöpft sitzen wir auf 4.794m Höhe und haben eine atemberaubende Aussicht auf den Yamdrok Tso. Der Gebirgssee schillert türkis-grün zwischen den hohen Bergen und entschädigt uns für die durchgestandenen Strapazen etwas. Nach einer kurzen Ruhepause haben wir eine angenehme Abfahrt zum Ufer des Sees. Hier finden wir einen idyllischen Lagerplatz direkt am Wasser. Ich will eigentlich nichts essen, sondern nur schlafen, doch Peter kocht. Während wir vor dem Zelt essen, haben wir wieder Zuschauer.

 

3. Tag, 45 Km:

Als wir uns am Morgen aus dem Zelt kämpfen, sind wir noch immer platt vom gestrigen Tag. Obwohl die Etappe heute immer nur am Seeufer entlang führt, ist uns klar, dass wir nicht sehr weit kommen werden. Schon nach zwanzig Kilometern bin ich mit meinen Kraftreserven am Ende und kaum noch in der Lage weiterzufahren. Nomaden helfen weiter. Eine Familie hat sich am Seeufer niedergelassen und läd uns zum Tee ein. Der Familienvater setzt sich zu uns und schneidet Fleisch von einem getrockneten Schafkopf ab. Die Gastfreundschaft verbietet, dass wir ablehnen, doch dies können wir unmöglich essen – so komplett, wie noch alles aussieht. Da es keine gemeinsame Sprache gibt, mache ich mit Händen und Füssen klar, dass wir aus religiösen Gründen kein Fleisch essen dürfen. Verständnisvoll werden uns geröstete Gerstenkörner serviert – Tsampa. Immer wieder werden unsere Tassen mit frischem Buttertee aufgefüllt, ein Getränk, an das man sich erst gewöhnen muss. Wir sitzen über eine Stunde zusammen und versuchen uns mit Hilfe unseres deutsch-tibetischen Wörterbuchs zu unterhalten. Fotos dürfen wir leider keine machen!

Als wir weiter fahren, fühle ich mich wie neu geboren. Ohne weitere Probleme erreichen wir den Ort Nankartse (4.410m). Heute schlafen wir im „Grain´s Guesthouse“, einer klassisch tibetischen Unterkunft mit Plumpsklos und ohne Strom.

 

4. Tag, 68,4 Km:

Auch heute haben wir wieder einen Pass zu bewältigen, den 5.015m hohen Karo La. Vom Dorf Nankartse aus steigt der Weg ständig auf einer Strecke von 18 Kilometern leicht an, doch nie so steil, dass wir absteigen und schieben müssen. Dann biegen wir in ein enges Seitental ein und staunen: von hier aus sehen wir auf den Gletscher des Siebentausenders „Nojin Kangtsang“, der plötzlich direkt vor uns steht. Wir sind tief beeindruckt. Obwohl es von hier aus wieder so steil bergauf geht, dass wir schieben müssen, sind wir gut gelaunt und genießen die Sicht auf die umliegenden Gletscher. Als wir auf der Passhöhe ankommen, sind wir noch immer ziemlich ausgeruht.

Die Abfahrt führt uns dann zu einer der schönsten Gegenden auf der ganzen Strecke. Ein weites Tal, wo man hinschaut von Nomaden und ihren Viehherden bevölkert; zum erstenmal sehen wir in Tibet die berühmten Yaks. Der Schotterweg ist in einem guten Zustand und über mehrere Kilometer leicht abfallend, es ist eine Wonne, hier zu fahren. Gegen Ende des Tages wird der Weg wieder schlechter und auch die Müdigkeit kehrt in die Beine zurück. Wir entscheiden uns, am Flussufer des Nyang Chu zu campieren.

 

5. Tag, 35 Km:

Die gesamte, kurze Etappe verläuft heute am Fluss entlang. Der Weg ist in einem eher mittelmäßigen Zustand und ständig haben wir kleine Anstiege und Abfahrten zu bewältigen. Nach einer relativ kurzen und nicht besonders anstrengenden Fahrt kommen wir am frühen Nachmittag in der Stadt Gyantse an.

Zur Übernachtung wählen wir das tibetisch geführte „ Wu Tse Hotel“, können dort sogar heiß duschen und einen sehr guten Service genießen. Wir sind seit langem mal wieder richtig sauber und verbringen den Rest des Tages damit, uns die Sehenswürdigkeiten von Gyantse anzuschauen: das Kumbum mit dem dazugehörigen Kloster und den Gyantse Dzong, eine zerstörte Festung, die hoch über der Stadt thront.

 

6. Tag, 99,6 Km:

Von unserem Hotelmanager erfahren wir beim Aufbruch, dass unsere gesamte heutige Tagesetappe asphaltiert ist. Motiviert machen wir uns auf den Weg und finden tatsächlich eine komplett ausgebaute Landstraße vor, auf der unsere Räder fast von alleine rollen. Höhenunterschiede haben wir heute keine zu bewältigen, wir genießen die Tour. Auffallend ist, dass auf der neuen Straße mehr Pferdekarren und Räder als motorisierte Fahrzeuge unterwegs sind. Wir finden keine großen Ortschaften oder Dörfer, es sind nur einzelne landwirtschaftliche Siedlungen zu sehen.

Schon nach fünf Stunden haben wir unser Ziel Shigatse erreicht – und erschrecken: die Stadt ist eine Großbaustelle, die Straßen werden neu gemacht, und zwar alle gleichzeitig! Alle Straßen sind aufgerissen und es ist für uns unmöglich, mit dem vollbepackten Rad zu der Unterkunft zu gelangen, die wir uns eigentlich ausgesucht haben. Stattdessen müssen wir zwangsläufig mit dem chinesischen Hotel „Qomolangma Friendship Hotel“ am Stadtrand vorlieb nehmen. Wir sehen mit unseren staubigen Klamotten nicht gerade gepflegt aus, die Chinesen sind recht unfreundlich zu uns und geben uns erst nach langem Verhandeln ein Zimmer nach unseren Preisvorstellungen; abgelegen im Hinterhof des Hotels. Ganz glücklich sind wir nicht mit der Situation, doch hier draußen haben wir wenigstens unsere Ruhe und können tun, was wir wollen.

 

7. Tag, Ruhetag:

Auch heute bleiben wir noch in Shigatse, um unseren planmäßigen Ruhetag einzuhalten. Wir verbringen die Zeit damit, Räder und Ausrüstung zu pflegen. An den Rädern müssen alle Schrauben nachgezogen werden, Peter muss sein Hinterrad neu zentrieren, da er einen gewaltigen Achter hat. In der Zwischenzeit wasche ich unsere Kleider, die haben es mittlerweile dringend nötig.

Am Nachmittag gehen wir in die Stadt, denn wir brauchen neue Keks-Vorräte, außerdem wollen wir uns auch noch das buddhistische Kloster „Tashilungpo“ ansehen. Als wir uns dort den ersten Tempel angesehen haben, werden wir von einem Mönch auf tibetisch angesprochen. Da wir ihn nicht verstehen, nehme ich mein Wörterbuch aus der Tasche. Er grinst und nimmt sein englisches Wörterbuch aus der Tasche und ehe wir uns versehen, sitzen wir gemeinsam in einem abgelegenen Hinterhof und tauschen Informationen aus.

Zwei Stunden später müssen wir gehen, wir haben zwar kaum etwas vom Kloster gesehen, aber statt dessen sehr viel gelernt. Sowohl über die tibetische Sprache als auch über die Art und Weise, wir Tradition und Religion von den Chinesen unterdrückt werden. Nachdenklich gehen wir ins Hotel zurück und packen unsere Sachen für den nächsten Tag zusammen.

 

8. Tag, 79 Km:

Als wir heute aufbrechen, sind wir beide froh, dass wir von dieser staubigen Großstadt fortkommen. Der Weg ist in einem katastrophalen Zustand und erst nach fünf Kilometern sind wir wieder auf der eigentlichen Strecke, zwar eine schlechte Schotterpiste, aber verhältnismäßig eben. Die ersten 30 Kilometer sind unspektakulär und relativ flach, einheimische Kinder radeln mit uns um die Wette.

Auch heute haben wir wieder einen Pass zu überwinden, den 3.975m hohen Tra La. Die Steigung ist nicht besonders heftig und schon nach fünf Kilometern sind wir auf der Passhöhe angekommen. Wir machen nur eine kurze Trinkpause, dann fahren wir weiter.

Der nächste Ort ist für uns eher von Bedeutung, denn hier befindet sich nach Angaben unserer Landkarte eine Militärkontrolle. Wir durchfahren das Dorf mit Herzklopfen und haben wieder Glück – wir werden nicht kontrolliert. Der Weg windet sich wieder an einem Flusstal entlang, am späten Nachmittag haben wir eine schöne Wiese direkt am Wasser gefunden, auf der wir das Zelt aufbauen. Nach den zwei Tagen in Shigatse ist es ein schönes Erlebnis, wieder die Natur genießen zu können.

 

9. Tag, 76 Km:

Auch heute müssen wir wieder über einen Pass, den Tsuo La (4.520m). Noch bevor die Sonne richtig aufgegangen ist, machen wir uns auf den Weg. Den ganzen Tag über fahren viele Fahrzeuge auf unserer Strecke, hauptsächlich sind es Jeep-Kolonnen, die organisierte Reisegruppen durch die Berge fahren. So ist unsere Tagesetappe sehr staubig und wir sind noch keine zwei Stunden unterwegs, da fluchen wir schon laut über die Gruppen, die das Land nicht wie wir tatsächlich erleben, sondern nur flüchtig durchbrausen und dabei viel Staub aufwirbeln.

Wir benötigen nur 1,5 Stunden, dann sind wir auf der Passhöhe angekommen. Die anschließende Abfahrt ist 7 Kilometer lang und in einem sehr guten Zustand, so dass wir Landschaft und Geschwindigkeit genießen können. Die scharfen Kurven sind mit den Rädern gut zu fahren, doch ein Blick nach unten in die Böschung zeigt, dass die LKW´s hier deutlich mehr Probleme haben: etwa 15m unterhalb des Weges liegt einer der LKW´s, die uns auf dem Weg zum Pass überholt haben – völlig zertrümmert und mit noch qualmendem Motor. Glücklicherweise ist nichts Schlimmeres passiert – Fahrer und Beifahrer klettern gerade aus dem Führerhaus.

Als wir weiter ins Tal fahren, sehen wir auf den Weideflächen dort Nomaden. Diese hier sind Touristen nicht gewohnt, wir werden nur scheu betrachtet. Das Ende der heutigen Etappe ist in der Stadt Lhatse und ich bin sehr froh, als wir endlich vor dem „Tibetan Farmers Adventure Hotel“ stehen, denn mein Knie schmerzt – wahrscheinlich vor Überanstrengung. Wir werden sehr freundlich empfangen, die Räder werden uns abgenommen und durch das Haus bis in unser Zimmer geschoben. Das Personal läd sogar für uns ab. Das Hotel wird von einer Khampa-Familie geleitet und wir sind überwältigt von der Gastfreundschaftlichkeit.

 

10. Tag, Ruhetag:

Ganz spontan entschließen wir uns zu einem weiteren Ruhetag. Mein Knie hat sich noch nicht ganz regeneriert und die nächste Etappe wird ziemlich hart. Außerdem sind wir so überrumpelt von der Gastfreundschaftlichkeit unserer Unterkunft, dass es uns gar nichts ausmacht, hier einen Tag länger zu bleiben. Im Dorf selbst gibt es nicht viel zu sehen. Hier wohnen hauptsächlich Tibeter und es gibt ein paar Läden, in denen wir unsere Keksvorräte wieder auffüllen. Den Rest des Tages verbringen wir in unserem Hotel, sprechen mit den Menschen, die dort leben und lernen tibetische Musik und Gesang vom Familienvater kennen.

 

11. Tag, 48,6 Km:

Nur ungern trennen wir uns von unseren Gastgebern, doch wir müssen ja weiterkommen. Highlight des heutigen Tages ist der Gyatso La, der mit 5.220m der höchste Punkt unserer gesamten Tour ist. Direkt hinter Lhatse beginnt der Weg schon anzusteigen, doch so zart, dass wir 10 Kilometer ohne Probleme weiterfahren können. Auch heute ist unser Weg sehr staubig, aber glücklicherweise gibt es hier nicht sehr viel Verkehr. Auf den letzten acht Kilometern werden die Kurven wieder steiler und wir müssen absteigen, um zu schieben. Ähnlich wie auch beim ersten Pass werden die Pausen immer länger und es ist später Nachmittag, als wir endlich auf der Passhöhe ankommen. Hier oben sieht man überall tibetische Gebetsfahnen, Seidenschleifen und verschiedene Opfergaben von gläubigen Tibetern: Kleidung, persönliche Gegenstände, Hörner von Yaks und Ziegen, ja sogar ein kompletter Kuhkopf liegt hier sorgfältig drapiert mit weißen Seidenschleifen auf einem Stein. Wir halten uns lange obenauf, fotographieren, teilen eine Schachtel Schokoladenkekse mit einer Nomadenfamilie, die plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht ist.

Als wir mit der Abfahrt beginnen, ist es schon spät und wir erleben eine herbe Enttäuschung: der Weg ist furchtbar uneben und schon nach 200 Höhenmetern bergab steigt die Piste schon wieder an. Ein Blick auf die Landkarte erklärt alles: wir befinden uns auf einem Hochplateau auf 5.000m Höhe, die heiß ersehnte Abfahrt beginnt erst 10 Kilometer hinter der Passhöhe. Da es schon dunkel wird, schlage wir unser Zelt auf knapp 5.000m Höhe am Flussufer des Lolo Chu auf. Die Nacht wird eisig kalt und sehr windig.

 

12. Tag, 37,1 Km:

Als wir aufstehen, ist unser Zelt dick mit Reif bedeckt. Wir knicken es so gut wie möglich zusammen und fahren los. Auch heute ist die Straße in einem furchtbaren Zustand, doch wir sind gut ausgeruht. Wir fahren an vielen Nomadenzelten vorbei, aus deren Dächern es raucht. Die Frauen sind vor ihren Zelten dabei, den Tagesbedarf an Buttertee vorzubereiten, die Kinder ziehen mit den Viehherden auf die Weideflächen – es gibt keine Schulpflicht für tibetische Kinder. Immer wieder werden wir nach Feuerzeugen und Süßigkeiten gefragt – der „Jeep-Tourismus“ in Tibet hat die Einheimischen zu Bettlern erzogen. Natürlich haben wir mit den Rädern nur das Nötigste bei uns, enttäuscht schauen uns die Kinder nach.

Unsere heutige Etappe ist fast ganz flach und wir genießen die Landschaft. Bäume und Sträucher gibt es hier nicht mehr, die Nomadenkinder müssen mit ihren Tieren weit laufen, um Weideland zu finden. Seitlich von unserem Weg sind kahle, braune Berge, die Gegend hier sieht unwirklich aus, ist aber wunderschön.

Doch auch heute werden wir nicht vom chinesischen „Bauwahn“ verschont: kurz vor unserem Tagesziel löst sich der Weg in eine unebene Sandpiste auf, die Straße wird neu gemacht. Die nächsten zwei Kilometer müssen wir durch losen Sand fahren der stellenweise so hoch liegt, dass ich absteigen muss, um keinen Sturz zu riskieren. Der Ort, in dem wir heute übernachten, nennt sich „Baipa Village“, doch in Wirklichkeit ist es nur eine Handvoll Häuser, die um eine Straßenabzweigung gruppiert sind. Auch unsere Unterkunft wird gerade umgebaut. Es gibt kein fließendes Wasser und die Plumpsklos treiben uns die Tränen in die Augen.

 

13. Tag, 62,0 Km:

Es ist noch dunkel, als ich plötzlich wach werde und mich übergeben muss. In den nächsten zwei Stunden fühle ich mich fürchterlich, ich habe mir wohl irgendwo den Magen verdorben. Als es hell wird, rüsten wir zum Aufbruch. Ich fühle mich zwar noch schwach, doch es muss ja weitergehen.

Direkt am Anfang kämpfen wir uns wieder durch die aufgerissenen Straßen, dann, am Ortsausgang, stoßen wir auf eine Asphaltstraße. Erfreut rollen wir etwa vier Kilometer über die gut ausgebaute Straße, dann stehen wir vor einer Barriere. Hier befindet sich ein Militärkontrollposten, an den bewaffneten Wachen kommt niemand unkontrolliert vorbei. Mit einem komischen Gefühl im Magen steigen wir von den Rädern – außer unserem chinesischen Visum haben wir keine weiteren Papiere, die wir eigentlich bräuchten, um hier sein zu dürfen. Der Soldat spricht kaum englisch, starrt uns nur mit undurchdringlicher Miene an. Als er unsere Reisepässe durchgeblättert hat (auf dem Kopf stehend) fragt er uns nach unserem Herkunftsland und winkt uns dann irritiert durch. Ungläubig und erleichtert steigen wir wieder auf und fahren weiter.

Nun beginnen die großen Berge des Himalaya und wir können oft einen Blick auf schneebedeckte Gipfel werfen. Als wir am Nachmittag in Tingri ankommen, sind meine Kräfte am Ende. Wir suchen uns ein Hotel, ein Blick aus dem Fenster entschädigt uns für alle Strapazen, die wir bis jetzt gehabt haben: bei strahlend blauem Himmel sehen wir die weißen Gipfel vom Mt. Everest und Cho Oyu direkt vor uns, etliche „kleinere“ Berge rundherum. Meine Müdigkeit ist fast weggeblasen, die Landschaft ist traumhaft schön.

 

14. Tag, 61,6 Km:

Um sechs Uhr morgens steht Peter auf, um Fotos zu machen. Als er eine Stunde später wieder zurück ist, habe ich schon alles gepackt und wir fahren los. Direkt hinter dem Ort haben wir einen etwa 10m breiten Fluss zu überqueren, als wir auf der anderen Seite ankommen, sind wir und unser Gepäck triefend nass. Um nicht zu frieren, fahren wir bis zum frühen Nachmittag ohne Pause weiter.

Im Dorf Gurtso halten wir an, um etwas zu essen. Eine Frau winkt uns in ihr Haus und wir bekommen „Thukpa“ serviert, eine scharfe, tibetische Nudelsuppe. Die zweite Etappe des heutigen Tages macht uns das Lebens schwer: die angeblich flache Strecke führt ständig über kleine, steile Hügel, am späten Nachmittag kommt starker Wind dazu. Diese Plagerei ist zuviel für mein Knie: das Stechen wird so stark, dass ich nicht mehr weiterfahren kann. Wir steigen ab und schieben bis zur nächsten Wiese, dort schlagen wir unser Zelt auf.

Wie schon so oft bekommen wir Besuch von tibetischen Bauern, die in der Nähe von uns wohnen. Wir versuchen uns zu unterhalten und die Frau läd mich ein, ihr Haus zu besuchen. Die Familie wohnt mit vier Personen in einem Raum, in einer Ecke steht der Hausaltar, die anderen Wände sind vollgehangen mit Haushaltsutensilien. Es gibt kein Strom und kein fließendes Wasser, vor dem Haus ist ein Wachhund angebunden, der mich böse anbellt, als ich mich verabschiede.

 

15. Tag, 38,3 Km:

Als wir am Morgen aufbrechen, wissen wir glücklicherweise noch nicht, was der Tag uns bringen wird. Kurz hinter unserem Lagerplatz beginnt der Weg anzusteigen, und das für die nächsten zehn Kilometer. Es ist zwar sehr staubig, aber seit Lhatse sehen wir kaum noch Autos.

Als wir gegen Mittag auf der Passhöhe des Lalung La (4.990m) ankommen, sind wir schon müde. Wir genießen eine relativ lange Abfahrt auf einem guten Weg und machen im Tal Mittagspause. Wieder gibt es tibetische Nudelsuppe. Frisch gestärkt nehmen wir den zweiten Pass in Angriff, doch starker Gegenwind macht den Anstieg zum Alptraum. Es dauert Stunden, bis wir endlich erschöpft auf der Passhöhe des Yarle Shung La (5.050m) stehen. Mittlerweile ist es schon später Nachmittag und wir haben erstklassige Sicht auf den Shisapangma, Tibets höchsten Gipfel. Es ist hier oben so schön, dass wir uns entscheiden, die Nacht hier zu verbringen. Zu uns gesellt sich ein Japaner, der sich von Lhasa aus mit dem Auto hierher bringen ließ, um die Himalaya-Abfahrt mit dem Rad zu genießen. Er hat kein Zelt bei sich, wir rücken enger zusammen und schlafen zu dritt in unserem.

 

16. Tag, 58,5 Km:

Heute ist der Tag der großen Abfahrt. Wir stehen früh auf, packen unsere Sachen zusammen und fahren los. Es geht 33 Kilometer auf einem guten Weg bergab, die Bremsen laufen heiß. Auch heute ist das Panorama erstklassig, aus allen Richtungen scheinen uns weiße Gipfel entgegen, dominiert vom Shisapangma, dessen Anblick uns den ganzen Tag begleitet.

Am frühen Nachmittag kommen wir in das breite Tal des Flusses Pö Chu, dessen Verlauf wir bis nach Nepal folgen werden. Ziel des heutigen Tages ist der Ort Nyalam, das letzte Dorf auf dem tibetischen Hochplateau.

 

17. Tag, 47,5 Km:

Nyalam bedeutet auf tibetisch: Eintrittstor zur Hölle! Schon bald wird uns die Bedeutung des Namens klar. Wir haben den Ort kaum verlassen, da fängt es an zu regnen – Dauerregen, der uns bis nach Kathmandu begleiten wird. Kaum ein Kilometer hinter Nyalam fällt die Straße ab. Wir fahren heute insgesamt 47 Kilometer bergab ins Tal. Die Wege sind sehr schlecht und nass, an Peters Hinterrad sind drei Speichen gebrochen. Wir laden den größten Teil des Gepäcks auf mein Rad um, damit Peters Felge geschont wird. Die folgenden Kilometer bis zur nepalesischen Grenze sind endlos. Es regnet ständig, die Wege werden immer schlechter und laufend müssen wir größere Wasserläufe durchqueren. Als wir im chinesischen Grenzort Zhangmu ankommen, sind wir furchtbar schmutzig, nass und müde.

Die Ausreise geht sehr schnell. Nach tausend illegalen Kilometern auf Tibets Wegen werden wir mit einem Stempel im Pass quasi rausgeworfen. Nun folgen acht Kilometer Niemandsland, die Straße ist in einem fürchterlichen Zustand.

Kurz vor der nepalesischen Grenze dann die Katastrophe: ein riesiger Erdrutsch in einer Haarnadelkurve, den wir nicht überklettern können. Wir müssen die Räder abladen und über eine steile Böschung 50m tief den Hang abrutschen – Fotos von der Aktion dürfen wir keine machen! Wir brauchen lange, bis wir endlich alles unten haben, dann beginnen wir die Räder wieder zu beladen. Plötzlich stürzen Menschen auf uns zu, entreißen uns die Räder und laufen damit weg. Wir sind ganz perplex und rennen hinterher. Wir sind noch keine 30 Meter gelaufen, da knallt es hinter uns schrecklich laut. Im Laufen drehen wir uns um und sehen Fels- und Erdbrocken durch die Luft fliegen. Zusammen mit anderen Menschen springen wir in einen Schlammgraben, ich komme mir vor wie im Film. Kurz drauf ist der Spuk vorbei. Die Chinesen haben den Erdrutsch ohne Vorwarnung gesprengt.

Ganz benommen steigen wir auf die Räder und fahren weiter. Schlamm und Wasser registrieren wir in den nächsten Kilometern kaum. Als wir an der nepalesischen Grenze in Kodari ankommen, durchflutet uns Erleichterung. Wir haben es tatsächlich bis hierhin geschafft, obwohl wir es in den vergangenen Tagen oft nicht geglaubt haben. Doch eine herbe Enttäuschung ist es, dass auch in Nepal die Straße nicht besser ist. Kein Asphalt, riesige Schlammgruben und ständig Flüsse, die über den Weg spülen.

Wir fahren noch vier Kilometer durch den Regen, dann finden wir ein „Guesthouse“ in Tatopani. Zum ersten Mal im Laufe des heutigen Tages sind wir im Trockenen zum ersten Mal seit langem können wir uns satt essen. Am Abend gibt es mehr Bier, als verträglich ist, doch das haben wir uns heute verdient!

 

18. Tag, 80,9 Km:

Auch heute morgen ist es am regnen, als wir aufbrechen. An Peters Rad ist mittlerweile die vierte Speiche gebrochen, bis Kathmandu haben wir keine Möglichkeit, den Schaden zu beheben. Die Straße ist immer noch schlecht, wir müssen über einige Erdrutsche klettern. Wassermassen sind unser ständiger Begleiter. Dann, nach 10 Kilometer, kommt die freudige Überraschung: die Asphaltstraße nach Kathmandu beginnt. Nun rollen die Räder von ganz alleine, doch zu gut für unseren Geschmack. Unsere Bremssysteme sind völlig am Ende und wir müssen mit unseren Füssen am Boden bremsen.

Nach 65 Kilometern kommen wir im Ort Dholalghat an, indem wir eigentlich übernachten wollen. Entsetzt müssen wir feststellen, dass es hier keine öffentlichen Hotels gibt. Campen wollen wir nicht, dazu ist alles zu nass. Wir fahren weiter zum nächsten Dorf: Dhulikel, 15 Kilometer von hier entfernt und 1.000m höher gelegen. Obwohl die asphaltierte Straße in engen Serpentinen den Berg hochklettert, verspüren wir keine Anstrengung. Über zwei Wochen Rad fahren auf über 4.000m Höhe haben uns gut trainiert. Es ist schon dunkel, als wir endlich ein Hotel finden. Unser Zimmer beherbergt außer uns noch zwei fast 10cm große Spinnen, doch wir sind froh, ein Dach über dem Kopf zu haben. Selbst ich bin so müde, dass ich nach einer kurzen Auseinandersetzung wegen der Spinnen kapituliere und mich unter der Decke verkrieche.

 

19. Tag, 38,4 Km:

Auch unsere letzte Etappe müssen wir im Regen zurücklegen. Hinter Dhulikel geht es wieder bergab ins Kathmandutal, unsere Schuhsohlen leiden beim Bremsen (Peter hat sich sogar schon die Gelkissen weggebremst).

Mittlerweile ist sehr viel Verkehr auf den Straßen, wir nähern uns dem Zentrum Nepals. Es ist erdrücken, nach so vielen Tagen in der fast verkehrsfreien Natur wieder in einer Großstadt zu landen, doch gleichzeitig sind wir unendlich erleichtert, unsere Tour tatsächlich zuende gebracht zu haben.

Wir brauchen lange, um im Straßengewirr von Kathmandu unser Hotel zu finden. Als wir dort ankommen, werden wir vom Personal mit Blumenkränzen empfangen. Ich breche in Tränen aus, teils aus Erleichterung, endlich angekommen zu sein, teils traurig, am nächsten Tag nicht weiterfahren zu können. Nur schwer zu erklären.

 

Mit unserer Ankunft ist eine unvergessliche Radtour zuende gegangen, so viele Eindrücke spuken in unseren Köpfen umher. Tibet hat uns in zwei Wochen ganz in seinen Bann gezogen und mit Wehmut denken wir an die Ereignisse der vergangenen Tage zurück. Eins ist jedoch sicher: falls es uns möglich ist, war dies nicht unsere letzte Reise in diesem wunderbaren Land...